Im "endgültigen Satiremagazin Titanic" war im Herbst 1994 ein Fußball-Cartoon abgedruckt. Darauf waren die Nationalmannschaften Brasiliens und Italiens zu sehen. Beide hatten sich für das WM-Endspiel in Los Angeles qualifiziert. Die 22 Spieler warteten auf die Nationalhymnen – doch was ist das? Die deutsche Nationalmannschaft lief mit aller Selbstverständlichkeit in Reih und Glied auf den Platz! Mit resignierter Miene sagt einer der "wahren" Endspielteilnehmer mit Blick auf die deutsche Nationalelf: "Sie haben´s immer noch nicht begriffen…"
Ähnlich hätte man heute über Selcuk Turan und Olaf Grabow denken können. Turan und Grabow, der entlassene Trainer und sein zurückgetretener Co, hatten sich hinter der Trainerbank Bert Ehms postiert und wohnten dem Spiel des SVHR bei: "Das sind unsere Jungs!", waren sich die beiden sicher. Hm – tatsächlich? Hatten es die beiden immer noch nicht begriffen? Ingo Desombre stand einen kraftvollen Steinwurf entfernt vor der HR-Trainerbank, also mussten die elf tapferen Baumschuler, die dem Meister Victoria auf durchweichtem Geläuf die Stirn boten, doch Desombres Jungs sein… oder? "Die Mannschaft hat uns eingeladen, hierher zu kommen", klärte Turan auf. "Es ist ihr kleines Dankeschön und zeigt wie gut unsere Zusammenarbeit war." Turan und Grabow erlebten an der Hoheluft bewegende Momente. Nach den Treffern zum 1:0 und zum 2:0 stürmten die Torschützen auf ihre alten Trainer zu und jubelten mit ihnen. "Zwischen uns und dem Trainer gibt es eine starke Bindung", begründete Kapitän Florian Pries den symbolträchtigen Torjubel stellvertretend für seine Mitspieler. "Die gesamte Mannschaft steht zum Trainer. Wir müssen jetzt mit der Entscheidung leben, sind aber unglücklich darüber." Zu guter Letzt erfuhr Turan selbst von seinem (zumindest vorläufigen) Nachfolger Ingo Desombre eine Würdigung: "Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn die Mannschaft sich anders verhalten hätte. Ich fand ihre Gesten gut. Turan hat den größten Anteil an diesem Erfolg. Ich habe nur die Trikots ausgeteilt und der Mannschaft ein wenig Mut gemacht." Desombre, deutlich im Schatten seines Vorgängers, nahm diese Begebenheit als selbstverständlich hin. Diese Mannschaft, mit der er bislang kein einziges Mal trainiert hat, ist noch nicht seine, doch wird er in den nächsten Wochen daran arbeiten müssen, sie hinter sich zu bringen.
Für das heutige Spiel stellte Kapitän Pries HR auf und ein, Desombre lieferte aber die "Begleitmusik" und fand dabei den treffenden Ton: "Hier ist ein Punkt drin, aber nur, wenn ihr es wollt!" HR wollte. Robert Dettlaff, kurzfristig für den beim Aufwärmen verletzten Yannick Bräuer im Sturm, untermauerte dies früh mit seinem 1:0 (9.) per Kopf. Steffen Reimers hatte geflankt. Zuvor wurde dessen Ecke zwar abgewehrt, doch durfte er den Ball in aller Seelenruhe ein zweites Mal vor das von Florian Ludewig aufmerksam behütete Tor schlagen. Und dort stand eben Dettlaff. Doch dann – im Gegenzug – eine der Schlüsselszenen des Spiels: Freistoß durch Stephan Rahn, sensationelle Parade durch Dennis Schultz (10.)! Der Ausgleich zu diesem Zeitpunkt, und man kann sich an fünf Fingern abzählen, welche Wendung das Spiel genommen hätte. Hatte es, dank Schultz, aber nicht. Und so gelang es den defensiv hervorragend organisierten Halstenbekern, die Führung zu verwalten. Victoria war klar feldüberlegen, aber viel Sehenswertes sprang, außer einem 18-Meter-Schuss von Sven Trimbron, nicht dabei heraus, während HR beinahe mit dem Pausenpfiff zum 2:0 gekommen wäre. Bert Ehm war "maßlos enttäuscht von der ersten Halbzeit, in der wir einfach schlecht gespielt haben. Wir waren alles, nur nicht torgefährlich."
Als kurz nach dem Wiederbeginn das 0:2 fiel, kam richtig Leben ins Spiel. Der Meister agierte nun gradliniger und griff endlich vehement an, hatte gute Chancen (Kopfball Stefan Westbrock, 63.), doch HR hätte mit etwas mehr Cleverness und Genauigkeit seine Kontermöglichkeiten zum 3:0 ausspielen müssen! Dann aber war es so weit: Aytac Erman legte geschickt auf den mit Tempo in die Spitze stoßenden Sven Trimborn ab, welcher zum 1:2 traf (72.). Obwohl sich kurz darauf Roger Stilz unnötigerweise zum Duschen verabschieden musste (74.), blieb Victoria jetzt am Drücker. Auch gegen zehn gelang HR in der Schlussphase kaum noch Entlastung, so dass das 2:2 sieben Minuten vor Spielende folgerichtig und verdient war. Christian Dirksen hatte gegen Erman ungeschickt das Bein stehen lassen, was dieser dankend annahm. Rahn verwandelte problemlos den fälligen Elfmeter. Was Bert Ehm ein wenig mit seiner Mannschaft versöhnte. Ein 0:2 umzubiegen, na, das ist doch auch schon was. Doch weder fußballerisch ("zu viel vertendelt, zu viel hinten rum gespielt, zu oft durch die Mitte") noch tabellarisch bleibt für Vicky etwas, was Ehms Ansprüchen hätte gerecht werden können: "Unsere Ambitionen, oben anzugreifen, können wir uns erstmal wieder abschminken", grummelte Ehm nach den Punktverlusten, zu denen es beinahe doch nicht gekommen wäre – doch die Koproduktion von Marc Pomorin und Stefan Westbrock fand ihr Ende am Halstenbeker Außennetz. So blieb es beim letztlich gerechten 2:2.
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