Wer sich die höchsten Ziele setzt, hat es naturgemäß schwer. Das ist im Fußball nicht anders als im übrigen Leben. Ständig stellen sich kleine Stolpersteine in den Weg und wollen einem die großen Triumphe vermiesen. Die Herzen vieler Zuschauer gewinnen diese tückischen „kleinen“ Gegner, auch liebevoll „Außenseiter“ genannt, meist im Fluge. Es ist für viele Menschen leichter, sich über den Sturz des Favoriten zu freuen, als eben diesem zu huldigen für die Realisierung seiner Ansprüche.
Die Ansprüche des SC Victoria vor dieser Saison waren eindeutig. Meisterschaft und Pokalsieg sollten her. Das Double. Wie schon 2007. Und Teil eins dieser Mission erfüllte das Team von der Hoheluft eben dort im Pokal-„Heimspiel“ gegen die SV Halstenbek-Rellingen. Nicht glorreich wie beim 6:1-Heimsieg in der Liga gegen die Mannschaft vom Lütten Hall. Ohne den Glanz des 5:1-Auswärtssieges bei der SVHR vor wenigen Wochen.
Aber letztlich verdient. Womit nach den ersten 45 Minuten nicht unbedingt zu rechnen war. Sicher, Vicky hat eine Spitzenmannschaft, die fast aus dem Nichts treffen kann und die es auszeichnet, auch schlechtere Spiele zu gewinnen. Aber was Bert Ehms Truppe in Hälfte eins anbot, war ungewohnt grauselig. „Bei allem Respekt vor HR, das sehr geordnet gespielt hat und defensiv gut stand: Sie haben nicht besonders gut gespielt“, sagte Roger Stilz nach Spielschluss und traf den berühmten Nagel auf den Kopf. Denn Halstenbek-Rellingens zweifellos ordentliche Leistung im ersten Abschnitt wurde begünstigt durch Stockfehler, schlechte Pässe und eine enorme Zweikampschwäche des SCV. Jonah Asante vertändelte als Innenverteidiger gleich dreimal den Ball, einfachste Dinge wie Ballannahmen oder Pässe über fünf Meter klappten oft schon am Mittelkreis nicht. Fast hätte Vicky sogar schnell hinten gelegen. Eine Ecke von Oliver Wroblewsky köpfte Robert Hermanowicz aus fünf Metern zielgerichtet ins lange Eck. Da stand Sven Trimborn und rettete auf der Linie (5.).
Der Meister hatte offensiv nur zwei gute Minuten mit schlechten Abschlüssen zu bieten. Ein schöner Doppelpass zwischen Stephan Rahn und Sven Trimborn verpuffte, da Rahns Eingabe in die Mitte nicht genau genug kam (32.) und eine von Roger Stilz nach feiner Einzelleistung flach an den Fünfer geschlagene Flanke legte abermals Trimborn mustergültig auf. Ahmet Hamurcu schoss aus kürzester Distanz Richtung Eckfahne (33.). So war vor der Pause erneut HR an der Reihe. Wieder Ecke Wroblewsky, diesmal Kopfballverlängerung Marco Kebbe, Nico Marquardt aus drei Metern mit dem Fuß – und wieder Trimborn als Retter in der Not (40.). Allerdings eventuell hinter der Linie, wie HR reklamierte. Näheres zu diesem Thema in der Rubrik „Videobeweis im Amateurfußball wäre eine Idee". Ebenso wie einfach mal treffen für HR. Doch Toni Ude verpasste einen Zuckerpass von Wroblewsky knapp (42.).
Nach dem Wechsel etablierte sich die Partie weiterhin auf überschaubarem Niveau. Der erst jetzt eingewechselte Sascha Richert („Das hat mich sehr getroffen, nicht von Anfang an zu spielen und der Trainer hat es mir auch nicht begründet.“) bemühte sich darum, die eigene DFB-Pokalteilnahme zu gefährden, mehr aber auch nicht. Mehr als Anstrengung bot Victoria auch nicht – bis zur 64. Minute. Nach einer schönen Kombination über links überwand Jan Lauers Pass Daniel Stars und Rahn konnte, frei vor Dennis Schultz, ganz WM-untypisch aus dem Vordergrund schießen. Machte er aber nicht, sondern umkurvte Schultz und schob, vorbei am verzweifelten Rettungsversuch von Jonas Schmerberg auf der Linie, den Ball zum 1:0 ins kurze Eck.
Dieses Tor befreite den Favoriten aus seiner Verkrampfung. HR hatte nun nichts mehr zuzusetzen, Vicky hingegen die Spielkontrolle samt etwas flüssigeren Kombinationen. Und dicke Chancen zur Vorentscheidung. Stilz vergab nach Pass von Rahn aus zwei Metern (80.), Melich scheiterte frei vor dem Tor an Schultz (85.), Rahn versuchte wieder den Trick mit dem Umkurven, schoss diesmal aber vorbei (85.), und Lauer gab Schultz die Gelegenheit, eine zweite Eins-gegen-Eins-Situation zu meistern (90+2.).
Es reichte trotzdem. Der tapfere Außenseiter sank nach starkem Kampf auf den Rasen und trauerte besonders der ersten Hälfte hinterher. „Da hätten wir unser Tor einfach machen müssen. So ist es umso bitterer, weil wir nahe dran waren, doch Vicky hat alles in allem gesehen verdient gewonnen“, befand ein enttäuschter Kebbe, für den sich in dieser Partie der Kreis seiner Pokalgeschichte auf fatale Weise schloss: „Am Anfang meiner Karriere war ich mit dem VfL Pinneberg im Finale gegen St. Pauli II (2001) und verlor 1:3. Jetzt, gegen Ende meiner Laufbahn, war es das zweite Mal. Wieder eine Niederlage. Schade.“
Die Sieger feierten indes ausgelassen und kündigten auf angefertigten Spezial-T-Shirts schon den zweiten Streich, die baldige Meisterschaft, an. Mit dabei Sezgin Akgül, der erst gestern noch vom HFV begnadigt worden war und mitkicken durfte. Akgül hatte am 8.12.2009 im Spiel bei Cordi den Linienrichter angerempelt und war eigentlich für sechs Monate gesperrt worden. Eine bessere Gelegenheit für ihn, sein Comeback zu feiern, konnte es kaum geben.
Auf der Pressekonferenz stürmte dann vor Thomas Bliemeisters Statement ein Teil der SCV-Spieler in den Raum, um aus voller Kehle „So sehen Sieger aus“ zu intonieren. Der enttäuschte Bliemeister wartete das Spektakel ab, gratulierte fair und äußerte sich zum Fall Richert: „Ich habe ihm begründet, warum er nicht spielt. Vielleicht hat er es nicht verstanden. Ich wollte Yannick Bräuer spielen lassen, der etwas angeschlagen war. Er meinte aber, es würde gehen. Sonst hätte Sascha von Anfang an gespielt. Leider musste Yannick mit einer Oberschenkelverhärtung in der Pause doch raus.“ Bert Ehm, biergeduscht und strahlend vor Freude, bemängelte Halbzeit eins („Ich sagte ja schon vorher, wie solche Spiele oft laufen.“) und schwankte in seiner Bewertung zwischen „glücklicher Sieg“, aber „dann doch verdient.“
Danach konnte die Feier im Clubheim beginnen. Welche neben reichlich Gesängen, Alkohol, Musik und guter Laune Erstaunliches in Sachen Double zutage förderte. Betreuer Oliver Sextro präsentierte stolz eine Meisterschale seines Alte Herren-Teams und meinte: „Eigentlich haben wir das Double schon gewonnen. Und Ronnys Team (gemeint war Manager Ronald Lotz) ist auch fast durch.“ Vicky kann sich also noch schnell neue Ziele setzen: Das Quadruple muss her! Pokal, Oberliga-Meisterschaft, Alte Herren, Senioren – sie sind unersättlich. Und für einen Favoriten verdammt symphatisch.
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