SC Victoria: Wolf – Theißen, Bajramovic, Asante, Kim – Lauer (76. Vierig), Trimborn, Stilz, Melich (76. Geist) – Hamurcu (72. Michael Meyer), Rahn FC St. Pauli II: Springer – Krause, Wacker (61. Hinzmann), Eybächer, Drobo-Ampem – Toksöz (72. Marcel Meyer), Brückner – Becken, Filipovic – Alassani, Pichinot (67. Kurczynski) Tore: 0:1 Pichinot (9., Vorarbeit Filipovic), 1:1 Rahn (14., Bajramovic), 1:2 Becken (21., Filipovic), 2:2 Hamurcu (41., Lauer), 2:3 Alassani (53., Pichinot), 3:3 Stilz (59., Trimborn), 4:3 Rahn (61., Melich), 4:4 Toksöz (72., Handelfmeter – verursacht durch Bajramovic), 4:5 Alassani (89., Krause) Rote Karten: Bajramovic (71., SC Victoria, absichtliches Handspiel), Marcel Meyer (87., FC St. Pauli II, grobes Foulspiel), Theißen (87., SC Victoria, Tätlichkeit), Stilz (90+2., SC Victoria, Tätlichkeit an Becken) Schiedsrichter: Yilmaz (FC Türkiye) – wurde in einem temporeichen Spiel samt seinem Gespann aufs Härteste gefordert. Leitete die Partie bis kurz vor Schluss kleinlich, aber souverän. Der Handelfmeter war korrekt, ebenso der Platzverweis für Bajramovic. Hätte allerdings weder Marcel Meyer noch Theißen vom Platz stellen müssen. In beiden Fällen hätte es die Gelbe Karte auch getan. Victorias Torwart Wolf wäre für seine Aktivität in der Rudelbildung (87.) mit Gelb gut bedient gewesen, erhielt jedoch keine Verwarnung. Bei Stilz‘ Wischer gegen Becken blieb Yilmaz kaum eine Wahl, wenngleich der fade Beigeschmack des „Nachhelfens“ durch den St. Paulianer sich bis auf die letzte Reihe der Tribüne schmecken ließ. Beste Spieler: Trimborn, Rahn, Lauer, Stilz – Alassani, Filipovic, Pichinot, Toksöz Zuschauer: 686
„Da an diesem Wochenende unmöglich noch etwas Besseres nachkommen kann, sollten nun alle weiteren Spiele abgesagt werden“, meinte Amateur-Original Behrend Schulz nach dem denkwürdigsten Oberliga-Spitzenspiel der vergangenen Jahre im Hamburger Amateurfußball. Er strahlte dabei übers ganze Gesicht und fast schien es als würde er gleich ehrfürchtig niederknien und den Rasen an der Hoheluft küssen. Wenn ein Spielbericht derartig beginnt, sind für den geneigten Leser die Gedanken an Einstiegssätze wie „Das war der Wahnsinn“ oder „Es war unfassbar““ nicht fern. Doch für dieses Spiel wäre jeder zusammenfassende Superlativ im ersten Absatz schlicht eine Beleidigung. Diese Partie kann für sich selber sprechen. Lassen wir sie ihre Geschichte erzählen.
Sie begann nass. Dauerregen besprenkelte bis pünktlich zum Anpfiff die Hoheluft – und ließ die Akteure danach mit dem tiefen Boden allein. Dort übernahmen die Gäste, ausgestattet mit breiter Brust und dem bisherigen Saison-Nimbus der Unbesiegbarkeit, sofort die Spielkontrolle. Nicht weiter verwunderlich, hatte Victorias Trainerfuchs Bert Ehm schließlich angekündigt, „gegen den FC St. Pauli die Oberhausen-Taktik“ anzuwenden. Doch die Begegnung sollte von Vickys Abwehrschlacht gegen RWO so weit entfernt sein wie die Erde vom Mond. Dies lag unter anderem daran, dass die Gäste gleich ihre erste Chance nutzten. Eine Freistoßflanke des besonders in der ersten Hälfte technisch exquisiten Petar Filipovic versenkte Nils Pichinot aus fünf Metern per Kopf zur Führung (9.). Und Vicky? Hatte sofort eine Antwort parat. Selbe Freistoßposition fünf Minuten später, nur von links, Roger Stilz flankte, Jasmin Bajramovic verlängerte, Stephan Rahn schoss ein. Und St. Pauli? Machte nach einer Riesenchance von Fousseni Alassani, die Dennis Wolf glänzend parierte (20.) – Florian Ludewig kam aus beruflichen Gründen erst spät zum Spiel und saß daher auf der Bank – den Standard-Hattrick komplett. Filipovics Ecke von rechts segelte unberührt durch den Fünfer und am zweiten Pfosten netzte Pierre Becken ein wie im Training (21.).
Dies stachelte die Gastgeber an, welche nun begannen, ihr Chancenminus in rasanter Manier aufzuholen. Erst verpasste Ahmet Hamurcu knapp eine Hereingabe des Ex-St.Paulianers Dennis Theißen (32.), dann vergab Rahn nach Sven Trimborns (bärenstark heute!) Kopfballvorlage aus sechzehn Metern (33.) und Hamurcu segelte in eine Flanke von Jan Melich – und der Ball danach übers Tor (36.). So war Vickys Ausgleich mehr als verdient, und fiel überraschenderweise nicht durch eine Standardsituation, sondern mit Hilfe eines früheren Victorianers. Der heute sehr unsichere David Eybächer störte Hamurcu nach einer Eingabe von Jan Lauer nicht energisch, setzte sich auf den Hosenboden – und der Stürmer zirkelte den Ball aus spitzem Winkel in denselbigen (41.). Fast hätte er gleich doppelt getroffen, doch sein flaches Geschoss nach Trimborn-Vorlage kratzte Wacker von der Linie (45.).
Nach verwunderten Pausengesprächen, was denn hier heute abgeht, setzten beide Teams in Halbzeit zwei noch mehr als einen drauf. Lauer alleine vorm Tor – daneben (47.). Alassani zwanzig Sekunden später für braun-weiß – Wolf hält. Ecke, Pichinot volley – geblockt (48.). Schließlich Pressschlag im Mittelfeld, der Ball flitzte zu Alassani, der flitzte ebenso an Jonah Asante vorbei und merkte plötzlich, wie verdammt eng Wolf schon vor ihm war. Lösung: Den Ball an Wolf vorbei Richtung Linie spitzeln, natürlich mit der Pike. Dort rutschte zwar Bumjoon Kim todesmutig zur Kugel, stoppte sie im Liegen auf der Linie. Alassani setzte nach und chippte ein – 3:2 für die Kiezkicker (53.).
Aber nicht lange. Denn sechs Minuten später schnappte sich Trimborn die Kugel und spielte einen zuckerhaften „Uwe-Bein-Gedächtnispass“ auf Roger Stilz. Der überlief Ole Springer und erzielte das 3:3 (59.). Was Stilz sich noch verkniff, nämlich auf die Pfiffe der St. Pauli-Fans von der Haupttribüne gegen ihn ab Beginn der zweiten Halbzeit zu reagieren, erledigte kurze Zeit später Rahn für ihn. Melichs Pass auf Vickys Ausnahmeakteur stellte dabei eigentlich keine Gefahr da, wäre nicht St. Paulis Keeper Springer 40 Meter aus dem Tor gelaufen. Rahn lupfte den Ball an ihm vorbei, knallte ihn aus gut 35 Metern mit rechts über den verzweifelt grätschenden und danach sofort ausgewechselten Wacker ins Tor (61.) und baute sich vor St. Paulis Fans auf. Eine Hand am Ohr bedeutete den braun-weißen Anhängern, nun mache ihn ihr Schweigen selig. Doch trotz Drehzahl bis zum Anschlag ging die wilde Fahrt immer rasanter weiter, nämlich zunächst durch einen abgewehrten Freistoß von Toksöz, den Becken nutzte, um über Wolf aufs Tor zu köpfen. Bajramovic klärte per Torwartparade, flog vom Feld, Toksöz erzielte vom Punkt das 4:4 (72.). Kurioserweise wurde auch er danach sofort ausgewechselt.
Weitere Chancen folgten, bis die Begegnung zum großen Finale ansetzte. Nach einem Foul des übermotivierten Marcel Meyer kam es drei Minuten vor dem Ende zu einer heftigen Rudelbildung. Theißen schubste dabei, wie viele andere Akteure auf beiden Seiten, ebenfalls einen Gegenspieler weg – und sah wie Marcel Meyer die Rote Karte. So hieß es denn neun gegen zehn – und die zehn kamen tatsächlich noch zum totalen Glück. Marlon Krause flankte von rechts und der in der Mitte allein gelassene Alassani versenkte den Ball zum sagenhaften 5:4 in die lange Ecke – eine Minute vor dem Ende. Noch bitterer für Vicky: Nach einem unbeherrschten Wischer von Stilz ging St. Paulis Becken derart K.O., als habe ihn gerade Wladimir Klitschko persönlich ausgeknockt (90+2.). Yilmaz stand direkt daneben, gab nochmal Rot – und pfiff kurze Zeit später ab.
Auf der Pressekonferenz musste St. Paulis Coach Jörn Großkopf erst einmal gestehen, „immer noch sprachlos zu sein“ ob dieses Spektakels. Sein erster Sieg als Trainer gegen Ehm bringt ihm und seinem Team nun zehn Punkte Vorsprung auf Platz zwei, aber „der Schlendrian wird bei uns nicht einkehren. Morgen um zehn Uhr ist schon wieder Training“, so Großkopf. Ehm hingegen betrauerte „die eigenen Undiszipliniertheiten gegen Ende. Auf der anderen Seite gab dieses Spiel eigentlich nicht vier Rote Karten her. Wir müssen nun sehen, wie wir die nächsten Wochen ohne diese Leistungsträger überstehen.“ In einem aber waren sich alle einig – und auch der zerknirschte Ehm bestätigte es: „Dieses Spiel war Werbung für Hamburgs Amateurfußball.“
Diesen am Wochenende aus Ehrfurcht vor dem heute Geleisteten komplett abzusagen ist vielleicht zu viel verlangt. Aber ab jetzt das ganze Wochenende symbolisch den Hut zu ziehen vor dem SC Victoria und dem FC St. Pauli II – das ist dieser Abend allemal wert.
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