16.05.2011 Rückblick: Zwischen Grabbeltisch-Pop und Stereo Mike von Folke Havekost
Es heißt, Verlierer schreiben die bessere Geschichte, weil sie sich mehr Gedanken darum machen, warum etwas schief gegangen ist. Mag sein. Mindestens spielen sie die bessere Musik, wie der Autor am Sonntag am Sportplatzring feststellen durfte. Die Bezirksligisten Stellingen 88 und der SV West-Eimsbüttel spielen beide auf der Anlage. Während Stellingen bereits als Absteiger in die Kreisliga feststand, schlossen die „Wespen“ eine überragende Rückrunde gestern mit dem kaum noch erwarteten Klassenerhalt ab. In Ermangelung eines eigenen feierfesten Clubheims begingen die West-Eimsbütteler ihren Erfolg im Clubheim der abgestiegenen Stellinger, wo Wirt Frankie nicht etwa mit frauenarztmucke à la „Das geht ab“ aufwartete, sondern mit Leonard Cohen, Van Morrison und den Housemartins – was nach so manchem europäischen „Grabbeltisch-Pop“ (Süddeutsche Zeitung) im Samstagabendfernsehprogramm durchaus Balsam für die Ohren war.
Was Wespe in den unteren Regionen, könnte Wedel in der Oberliga sein, schließlich spielen die Holsteiner auch eine aserbaidschanisch anmutende Rückrunde. Die Rettung aus schier aussichtsloser Lage nahm in der Nordheide eine Halbzeit lang mehr und mehr Gestalt an. Der 0:1-Pausenrückstand war eher schmeichelhaft für die 08er, die laut ihrem Trainer Thomas Titze noch „zwei Eimer Blei an den Füßen“ hatten – geschuldet dem ernüchternden Pokal-Aus in Eimsbüttel am Dienstag. Zur Halbzeitpause zogen die Buchholzer aber offenbar die Eimer aus, Arne Gillich setzte sich im Torjägerduell mit Wedels Kemo Kranich an die Spitze und 08 hatte mit seinem 3:2 den befreundeten Barmbekern im Abstiegskampf geholfen.
Neben den Buchholzern mussten auch die Meiendorfer am Pokaldienstag Wunden lecken. Nach dem Aus in Billstedt präsentierte sich der MSV aber alles andere als lustlos, worauf vielleicht ein anderer Abstiegskandidat spekuliert hätte. Doch der USC Paloma, eine Mannschaft, die mit drei Siegen höchst erfolgsversprechend ins Jahr 2011 gestartet war, zerlegt sich offenbar selbst. Zweimal Gelb-Rot wegen Meckerns darf im Abstiegskampf nicht passieren, egal ob der Schiedsrichter nun gute Ohren hatte oder sensible (oder beides).
Auch der SC Concordia konnte nicht punkten, ging bei Meister St. Pauli II gar 1:5 unter. So dass Coach Andreas Führer im Anschluss grübelte, ob seine Kicker ihre Einstellung am Eingangstor abgegeben hätten. Falls ja, haben sie sie hoffentlich fürs letzte Heimspiel gegen Oststeinbek wieder mitgenommen, denn sonst könnte schon am nächsten Wochenende der Landesliga-Abstieg feststehen. Die St. Paulianer Anhänger nahmen lieber von den 100 Litern Freibier, die eine Brauerei zum Titelgewinn spendiert hatte. Insgesamt kamen 326 Besucher, wie die Song-Contest-erfahrene Stadionsprecherin mit den Worten „die Zuschauerzahl, natürlich präsentiert von Stereo Mike“ bekanntgab. Stereo Mike war der Rapper, der das Intro zum griechischen Eurovisions-Beitrag leistete.
Die Griechen bekamen aus Europa immerhin 120 Punkte, die abstiegsbedrohten Oberliga-Teams nur einen einzigen. Der reichte Barmbek-Uhlenhorst in Oststeinbek, um tatsächlich wieder über dem Strich zu landen – was noch lange nicht die Frage beantwortet, ob das 1:1-Unentschieden für die Barmbeker nun ein einfacher Punktgewinn oder ein doppelter Punktverlust ist. Immerhin holte Markus Hasenpusch den Elfmeter zum Ausgleich heraus, vergab aber auch kurz vor Schluss die Siegchance – was für Oststeinbek den nun auch rechnerisch sicheren Klassenerhalt bedeutete.
Solche Sorgen hat Curslacks Trainer Torsten Henke schon lange nicht mehr, der am Sonntag an der Waidmannstraße das Spiel zwischen St. Pauli und Concordia besuchte und immer noch verwundert den Kopf schüttelte. Nein, nicht darüber, dass der mitleiderregend schwache Auftritt des Schweden Eric Saade in Düsseldorf für Platz drei gereicht hatte. Saade, über den Henke nicht sprach, hatte auf der Eurovisions-Bühne das Einschlagen eines Fenstern mit seinem Ellbogen simuliert, dabei aber nicht einmal zu Kunstblut gegriffen, um damit sich und seine Umgebung vollzuschmieren. Alte Punk-Performer wie Iggy Pop müssen bei solch kreuzbraver Langweiligkeit In ihren Ohrensesseln rotiert haben. Über Iggy Pop sprach Henke allerdings auch nicht, sondern über die zahlreichen Chancen, die sein Team sich am Freitag in Schnelsen erspielt hatte – obwohl Goalgetter Christian Spill früh verletzt vom Platz musste. Zwei ihrer zirka acht Großchancen nutzten die Curslacker, was zu einem 2:1-Sieg genügte. Ein weiterer Erfolg, und die Vierländer haben sich mindestens den Bronze-Rang in der Oberliga gesichert. Dann aber bitte nicht auf die Idee kommen, imaginäre Fensterscheiben zu zertrümmern.
Wessen Pokalträume noch nicht in Scherben liegen, der nimmt seine Ligapflichten schon mal etwas lockerer. Altona 93, morgen im Halbfinale beim ETV gefordert, erreichte immerhin ein 1:1 bei der Überraschungsmannschaft SV Rugenbergen. Der Niendorfer TSV ging dagegen beim SC Condor regelrecht unter, war, wie Trainer Andreas Laas befand, „mit den Köpfen zum Teil schon in Billstedt“. Dort sollte die Niendorfer Performance am Mittwoch anders ausfallen, sonst warten der Pokal-Blues und elfmal zwei schon von Buchholzern getragene Eimer Blei auf den NTSV.
Das schnellere Geschlecht hat seine Pokalaufgaben übrigens bereits hinter sich – am Samstag fand das Oddset-Pokalfinale der Frauen an der Hoheluft statt. Und während die Männer des dort angesiedelten SC Victoria am Wochenende durch ein glückliches 2:1 in Bergedorf ihre missratene Saison etwas aufpolierten, registrierte der Pokalfinalbesucher erstaunt, dass es an der Hoheluft (sogar ohne Rainer Becker) eine lautstarke Kulisse geben kann. Zahlreiche Fans des SV Wilhelmsburg bejubelten den Überraschungserfolg ihrer Kickerinnen gegen das höherklassige Bergedorf 85 – so viel Stimmung war an der Hoheluft seit Monaten nicht mehr. Regionalliga-tauglich ist das Stadion ja schon, vielleicht könnte man – gäbe es nur stabiles Maiwetter in Hamburg … – auch mal einen Open-Air-Eurovision-Song-Contest dort austragen.
Kein besonders aufregendes Lied wäre dort von der Begegnung zwischen Eintracht Norderstedt und dem Bramfelder SV zu singen, die in einem unspektakulären 1:1 mündete. Was da an Gefühlen transportiert wurde, war nur die Sehnsucht nach dem Saisonende. Die Norderstedter haben mit Andreas Prohn einen guten, ehrgeizigen, manchmal auf die Tribüne verwiesenen Coach und eine talentierte Mannschaft. Aber angesichts des beeindruckenden Umfelds mit Nachwuchsinternat, Stadion und Kunstrasen denkt man gerne, die Holsteiner würden unter Wert geschlagen. Da gleichen sie den irischen Jedward-Zwillingen, deren Eurovisions-Lied vom bunten Treiben auf der Düsseldorfer Riesenleinwand vollkommen überschattet wurde. Statt zum Telefon zu greifen, haben viele Zuschauer angesichts des Orkans von Kreisen und Plus-Zeichen vermutlich erst einmal ihre Playstation aktiviert. Gegner Bramfeld, zuletzt in guter Verfassung, sicherte sich durch das Unentschieden endgültig die Rote Laterne, wäre also im Hamburger Fußball das, was die Schweiz für den europäischen Gesang darstellt. Für die Helvetier fuhr Anna Rossinelli tatsächlich nur 19 Punkte ein, zwei weniger, als der Bramfelder SV nun schon besitzt. Ihr Beitrag trug seltsamerweise den englischen Titel „In Love for a While“, bestand aber im Wesentlichen aus der Zeile „Nanananana“. War das jetzt Schweizerdeutsch, das laut Volksabstimmung künftig in den Kindergärten des Kantons Zürich gesprochen werden muss? Oder setzten die Schweizer aufs falsche Vorurteil, im Song Contest gewönnen stets Lieder, die jeder Amateurfußballer sich einprägen kann. Vielleicht ist es in der Schweiz aber auch einfach anders als in Stellingen, und die Verlierer machen manchmal doch die schlechtere Musik.
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