27.02.2012 Rückblick: Ohne Worte von Folke Havekost
Manchmal scheint die Zeit stehen zu bleiben, weil Dinge passieren, die einfach nicht zu fassen sind. George Valentin, Hauptfigur des mit fünf Oscars ausgezeichneten Stummfilms „The Artist“, wird sich wohl immer an den Moment erinnern, als der Tonfilm beginnt, ihn ins Abseits zu stellen. Ein dramatischer Niedergang setzt ein, der dem einst Gefeierten fast das Leben kostet. Fünf Jahre dauert es, bis er wieder auf die Beine kommt und eben diese zum Steppen nutzt.
Wenn die Zeit stehen geblieben ist, heißt das noch lange nicht, dass Mario Jurkschat stehen bleibt. Nein, er läuft in den Strafraum, nimmt das Zuspiel von Rafael Monteiro auf und schiebt das runde Ding ins eckige. Wie hießen die beiden Sachen noch mal? Ach ja: Ball und Tor. Fast hätte man es vergessen können.
Nein, hätte man natürlich nicht: „13. März 2011, 14.11 Uhr“, gab der Norderstedter Stürmer am Freitag präzise den Zeitpunkt an, an dem er zuletzt in einem Fußballspiel aktiv gewesen war. Die Zeit war stehen und er erst mal liegen geblieben: mit gerissenem Kreuzband und gerissenem Außenmeniskus.
Seit Freitag, 20.59 Uhr jagt „Harry“ wieder Oberliga-Bällen hinterher – und sein Joker-Treffer zum 1:1-Endstand bei Victoria war ein Comeback, das die Bemühungen eines George Valentins locker in den Schatten stellte. „Mir passiert eben immer was“, strahlte Jurkschat nach Abpfiff wie ein Honigkuchenpferd, das sein heiles Knie küsste und vor Rührung leicht gebrochen wieherte. Nur Steppen tat es nicht. Im Land der Oscars nennt man so etwas eine „Cinderella story“. Für uns ab jetzt einfach nur: ohne Worte.
Victoria hat’s dagegen nicht so mit der Kunst, zumindest nicht mit dem eigenen Kunst-Rasen. 0:0 gegen Meiendorf in der Hinrunde, nun das 1:1 gegen Norderstedt – auf diesem Terrain scheint Vickys Aufholjagd noch nicht so recht in die Gänge zu kommen. Norderstedt zeigte sich von Victorias Vorsprung durch das Freistoßtor von Benny Hoose jedenfalls ebenso wenig beeindruckt wie leicht zeitversetzt der HSV in Mönchengladbach.
Was lernen wir also? Rückstände sind Rückschläge, von denen wir uns nicht unterkriegen lassen sollten. Die Lehre von George und Harry beherzigte auch Curslack-Neuengammes Marco Theetz, der wegen seiner Statur von einem ungenannt bleiben wollenden Amateurfußball-Experten mit Boxweltmeister Alexander Povetkin verglichen wurde. Beim 2:1 nach 0:1 gegen Germania Schnelsen schoss Theetz nicht nur den Ausgleich, sondern erreichte auch noch, dass Mustafa Günaydin nach einer Auseinandersetzung mit ihm vom Platz gestellt wurde.
Fand nicht jeder toll (vor allem die Schnelsener nicht so), aber Povetkin ist ja auch nicht unumstritten. Sonst hieße er, so viel haben wir gelernt, ja nicht Weltmeister, sondern Superweltmeister, wie die Boxverbände inzwischen einen Kämpfer nennen, der so erfolgreich ist, dass es sie langweilt. Friedrich Nietzsche schlägt zwar in seinem Grab um sich, aber die Deckung der Klitschkos steht. Und im Hamburger Amateurfußball lassen wir den Supermeisterschafts-Gürtel einstweilen von den Bergedorfer Elstern abholen, die erstaunliche Mutationsfähigkeiten an den Tag legten.
Die Bergedorfer kassierten beim SC Vier- und Marschlande zwar gleich zweimal den Ausgleich, setzten sich gegen den Nachbarn aber doch mit 4:2 durch. Vor allem dank ihrer Stürmer, die nicht so viel Körpergröße, dafür aber ganz viel Quirligkeit mitbekommen haben. „Unsere Mickymäuse waren auf dem kleinen Platz im Vorteil“, freute sich 85-Trainer Olaf Poschmann, der zwar stolz darauf sein darf, aus Elstern Mäuse gemacht zu haben. Aber auch aufpassen muss, den Trikotsponsor nicht zu verärgern. Schließlich könnten Mahrt, Bugrov, de la Cuesta und die ganze Mäuseschar auf die Idee kommen, demnächst wie ihr Ahne Micky mit freiem Oberkörper aufzulaufen.
Im Mutterland des Fußballs wäre das außerordentlich „shocking“. Schockierender jedenfalls als ein verschossener Elfmeter, ohne den in England mittlerweile qua Unterhaus-Beschluss kein Fünfuhrtee mehr serviert werden darf. Der FC Liverpool und Cardiff City versemmelten im Ligapokal-Finale zusammen stolze fünf von zehn Elfmetern. Der Niendorfer TSV dagegen nutzte den einen, den er bekam. Und zwar zur 2:1-Führung gegen Oststeinbek, das sich schließlich 3:1 geschlagen geben musste. Dass mancher Beobachter über den Niendorfer Heimsieg überrascht war, zeigt vor allem, welchen Respekt sich der – ja, nach wie vor: – Abstiegskandidat mittlerweile erworben hat.
Die Stormarner haben aber auch weder nach Leistung noch nach Punktestand übergroßen Grund zur Sorge. Denn Vorwärts-Wacker Billstedt nutzte auch ein Trainerwechsel nichts, das 0:2 gegen Halstenbek-Rellingen lässt die Situation für den Aufsteiger und Pokalfinalisten immer aussichtsloser werden. Die Euphorie ist längst verstummt, und aus betretenem Schweigen könnte wohl allenfalls „Artist“-Regisseur Michel Hazanavicius etwas machen. Doch der dürfte einen Arbeitsbesuch in Billstedt terminlich kaum einrichten können. Die Zeit bleibt ja schließlich nicht stehen.
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