Schon vor der Partie gab es kleine Probleme beim Oberliga-Tabellenführer: Coach Jan Schönteich stand auf der A7 bei Hannover im Stau und war erst rund 30 Minuten vor dem Anpfiff auf der Anlage. Sogar erst noch ein paar Minuten später war Kristof Kurczynski da. Er wusste nicht, wie er vom Harburger Bahnhof zur Baererstraße kommen sollte und rief um 17.15 Uhr an. Betreuer Matthias Albrecht setzte sich ins Auto und düste zum Bahnhof. Doch kein Dassendorfer Stürmer weit und breit zu sehen. Genervt kam „Grete“ zurück: „Wieso geht der jetzt nicht mehr an sein Handy?“. Kurz nach 18 Uhr trudelte Kurczynski dann zu Fuß doch noch ein: „Ich habe Harburg Rathaus gewartet“. Dass das nicht der Harburger Bahnhof ist, sondern eine S-Bahn-Station, hat er wohl nicht gewusst und seine „Abholer“ zum falschen Bahnhof gelotst.
Im „falschen Film“ fühlten sich dann die meisten Spieler und auch die Zuschauer: Bei einsetzender Dunkelheit und nur schwachem Flutlicht waren die Hellblau-weiß gestreiften Trikots (wie die von Argentinien) der Hausherren kaum oder gar nicht von den weißen Trikots der Gäste zu unterscheiden. So klagte Eric Agyemang schon nach wenigen Minuten: „Ich kann nichts erkennen“. Dieser Ausspruch sollte später übrigens ziemlich zutreffend seine Leistung auf dem Platz widerspiegeln…Zur Halbzeit wurde dann zumindest dieses Problem behoben und Dassendorf spielte in dunkelroten Shirts weiter.
Doch die anderen Probleme blieben. Dersimspor betrieb einen immensen läuferischen Aufwand und bereitete dem Oberliga-Primus gehörige Schwierigkeiten. Alle Anwesenden waren sich einig: „Das halten die nicht durch“. Sie sollten sich täuschen… Die erste Hälfte war aus Dassendorfer Sicht eine einzige Enttäuschung. Der Landesligist ließ so gut wie nichts zu. Nur Agyemang tauchte nach feinem Zuspiel von Alexander Bogunovic einmal völlig frei vor Keeper Fitra Rijono auf, doch der hielt glänzend (28.).
Deutlich mehr hatte Dersimspor zu bieten: Der Ex-Condor-Kicker Serhat Cayir, an der Bande angefeuert von seinen Freunden Pascal El-Nemr und Lamin Jawla, drehte richtig auf, gewann gegen die behäbige TuS-Abwehr ein Sprintduell nach dem anderen. So auch beim 1:0, als Cayir locker an Bogunovic vorbeizog und auch den zu zögerlich herausgeeilten Keeper Christian Gruhne umkurvte und fast von der Seitenauslinie geschickt einnetzte (22.). Zehn Minuten später sogar fast das 2:0, als Gruhne einen Abwurf direkt in die Füße von Cayir schleuderte, der postwendend Christian Fuchs bediente. Der ging bei seiner Direktabnahme volles Risiko und verfehlte das Tor nur knapp (33.).
Für Dassendorf zur Pause ein eher schmeichelhafter Rückstand. Schönteich reagierte. Nicht nur die neuen Trikots (s.o.), sondern auch zwei Wechsel und eine Umstellung: Dettmann rückte auf die „Sechs“ vor, dafür ging Marcel Stadel in die Innenverteidigung (für ihn musste Ronny Buchholz weichen). Auf der Außenbahn durfte nun Zuspätkommer Kurczynski ran (für „Kunstrasenkönig“ Jawan Shir, der einfach nicht die Leistung abrufen kann, die ihm letztes Jahr im Pokal beim ASV Hamburg zum „Star“ machte).
Das trug sofort Früchte. Tornieporth mit seiner ersten (!) vernünftigen Flanke und „KK“ köpfte (nach Fehler von Musa Drammeh) zum Ausgleich ein (50.). Jetzt endlich präsentierte sich der Favorit seinen Fans in einer vernünftigen Verfassung. „Da muss man sich fragen: Warum nicht von Anfang an?“, stellte Co-Trainer Thomas Hoffmann zu recht fest. Doch trotz einiger Hochkaräter wollte der Ball nicht mehr über die Linie. Bezeichnend für seine Formkrise die vergebenen Chancen des Eric Agyemang (72./95.). Dinger, die er zu Beginn der Saison mit verbundenen Augen gemacht hätte.
„Wir müssen hier 10:1 führen“, übertrieb Hoffmann zwar ein wenig, denn auch die Gastgeber spielten weiter munter mit und hätten durch Rustam Weizel’s Kopfball in Führung gehen können (108.), aber in der Tat war die Chancenverwertung der Sachsenwäldler ein Fiasko. Ob nun Kurczynski frei vorm Torwart mit einem Lupfer (!) neben das Tor (61.), Joe Warmbier per Kopf (69.), oder Tornieporth mit einem Freistoß aus 25 Metern knapp vorbei (90.) – es wollte einfach nicht klappen. Das dickste Ding dann ganz zum Schluss: Sekunden vorm Ende der Verlängerung köpfte Kurczynski einen „Tornie“-Freistoß aufs Tor, Rijono ließ nach vorne abprallen und Warmbier und Atug waren sich nicht einig, wer den Ball denn nun ins leere Tor schieben soll. Beide zögerten so lange, bis ein Abwehrspieler klären konnte. Unfassbar. „Wir haben vorne im Moment ein Problem, das hat man schon in Elmshorn gesehen“, bekannte Hoffmann.
In den Schlusspfiff hinein wollte Dersimspor noch gerne wechseln: Der Ersatztorwart Murat Bakir sollte kommen und zum Elfmetertöter werden. Doch da Frank Gläser schon zweimal vorher (!) den SR-Assistenten zu sich gerufen hatte, um dann zu sagen: „Äh, ach nee, jetzt doch noch nicht“, ließ das Gespann den Wechsel nicht mehr zu. Eigentlich unglaublich – doch für die Hausherren ein echter Glücksfall, wie sich im nachfolgenden Elfmeterschießen zeigen sollte. Keeper Fitra Rijono, der mit „klein, kompakt, gut“ zutreffend umschrieben ist, wurde zum Helden von Harburg:
Die „kurdischen Argentinier“ jubeln nach dem letzten Elfmeter. Foto: Joe Noveski, www.noveski.com
Stimme:
Jan Schönteich (Trainer TuS Dassendorf): Ich bin fassungslos. Ein anderes Wort fällt mir dazu nicht ein. Ein Deja-vu vom letzten Jahr. Genau der gleiche Ablauf: 1:0 zur Halbzeit im Rückstand, der eingewechselte Spieler macht das 1:1 und danach schaffen wir es nicht, zehn einhundertprozentige Chancen plus drei Elfmeter zu nutzen. Ich bin fassungslos, wie leichtfertig wir uns hier aus diesem Wettbewerb verabschiedet haben.
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