Das menschliche Gehirn funktioniert erstaunlich erfreulich. Qualen und Entbehrungen kann es bewusst verdrängen. Umso mehr, wenn alles Unangenehme durch positive Erinnerungen überstrahlt wird. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder bei der Erziehung ihren Eltern deutlich mehr Stress als Freude bereiten. Woran erinnern sich aber Papi und Mami, wenn der einst süße Fratz das Haus verlässt? An die schönen Momente! Kind hat die ersten Zähne gekriegt, Kind war verliebt, Kind hat mit Daddys Wagen zwar eine Mülltonne umgefahren, blieb aber unverletzt…usw.
Fußballern geht es nicht anders. 90 Minuten mit extrem viel Schatten können durch nur eine grandiose Aktion völlig in Vergessenheit geraten. Oliver Bierhoff bewegte sich in manchen Partien seiner aktiven Karriere weniger als der Brezelmann im Stadion – aber er köpfte eben das Siegtor. Trotz der Entwicklung des Fußballsports (Stichworte Systemspieler, falsche Neun, Flexibilisierung, abkippende Sechser etc.) schreibt unser Sport solche Geschichten immer noch. Und heute suchte sich der Fußballgott dafür einen Spieler aus, der kein typischer Kandidat für eine solche Story ist: Marcel Rodrigues. Der 25-jährige Angreifer ist kein Bierhoff in modernem Gewand. Er ist quirlig, technisch stark, lauffreudig. Nur: Heute gelang ihm sehr wenig. Außer in der 44. Minute. Dazu später mehr.
Denn nur in Ausnahmefällen wird ein Spielbericht dank schicksalhafter Begegnungen im Bus nach der Pressekonferenz http://www.hafo.de/news/fullnews.php?id=5723 rückwärts erzählt und somit befinden wir uns nun am Anfang des mit Hochspannung erwarteten Oberliga-Spitzenspiels zwischen Victoria und Dassendorf, bei dem die Gastgeber ohne Marius Ebbers (muskuläre Probleme) auskommen mussten. Es läuft die 4. Spielminute. Victorias Kangmin Choi reißt Dassendorfs linke Abwehrseite mit einem mustergültigen Steilpass auf Jan-Ove Edeling auf. Der sprintet mit dem Ball fast bis zur Grundlinie, legt zum Sechzehner ab auf Vincent Boock. Schuss Boock – und Torwart Christian Gruhne lässt den haltbaren Ball zur Ecke ins Aus flutschen. Die tritt Dennis Thiessen. An den zweiten Pfosten. Da steht Rinik Carolus. Total frei. Köpft in die Mitte auf Choi. Der maximal 1,65 Meter-Mann steht noch freier als total frei – und köpft aus zwei Metern locker ins kurze Eck. 1:0 für den SC Victoria (5.)!
So furios startete die Begegnung, die sich von Beginn an eines Oberliga-Gipfels als absolut würdig erwies. Dassendorfs Pascal Nägele meinte hinterher, die Gäste hätten „die ersten 20 Minuten verschlafen“. Als Illustration für diese Worte mag die 17. Minute dienen. Einen Freistoß 25 Meter vor dem Tor auf der rechten Seite steckte der überragende Thiessen (Fand später seine Leistung „ganz in Ordnung“, Hafo gibt ihm eine glatte 1!) einfach wie an der Schnur gezogen flach durch zu Carolus. Ohne Dassendorfer Gegenwehr. Carolus scheiterte am insgesamt unsicheren Gruhne.
Nur zum Abwehrfehler machen waren die Schleswig-Holsteiner jedoch nicht angereist. Und als sie erwachten, sah das super aus. Victoria verlor unnötig den Ball, Dassendorf schaltete auf links blitzschnell um. Sven Möller auf Nägele, der zieht zwei Leute auf sich, Pass in die Mitte – und Henrik Dettmann steht so blank vor Grubba wie vermutlich nicht mal in einem Pokalspiel gegen einen Kreisligisten. Kühler und überlegter Schieber ins lange Eck – 1:1 (19.).
Victoria schlug mit einer Thiessen-Ecke zurück, die Torben Wacker am langen Pfosten nicht verwerten konnte (21.), doch Dassendorf bekam das Spiel jetzt besser in den Griff. Grubba parierte einen Schuss von Adrian Voigt dennoch routiniert (27.). Dassendorf ließ den Ball nun öfter hübsch durch die eigenen Reihen laufen. Ohne zündenden Funken im letzten Drittel, ohne den berühmten „letzte Pass“. Dass Fußball mehr ist als Ballbesitz und optische Überlegenheit, zeigte kurz vor der Pause wieder der SC Victoria. Womit wir beim magischen Moment des ansonsten blassen Rodrigues angekommen wären.
Dassendorf spielte ein halbherziges Pressing, Victoria befreite sich – und Thiessen schickte mit einem seiner x-fachen Traumpässe Boock auf die Reise. Der bediente in der Mitte Marcel Rodrigues. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich dachte, Boock steckt mir den Ball gar nicht durch. Dann kam er doch. Aber Gruhne war direkt hinter mir. Ich hatte also keine Wahl und dachte, ich versuche es mal“, kommentierte Rodrigues die Szene des Tages hinterher, die es in jede Auswahl zum „Tor des Monats“ schaffen würde. Rodrigues zog den Ball mit dem Rücken zum Tor hinter seine Füße und bugsierte ihn mit der rechten Hacke durch Gruhnes Beine. Das Spielgerät hoppelte fröhlich vor der eigenen Fankurve hinter dem verduzten Keeper ins Netz (44.). Ein genialer Wahnsinn, dieser Treffer!
In der zweiten Hälfte verpasste Victoria (nun mit dem eingewechselten Sepehr Nikroo auf links und Boock für den Gelb-Rot gefährdeten Luis Hacker auf der zweiten Sechserposition) zunächst durch Kevin Zschimmer die Vorentscheidung, nachdem Gruhne eine eigentlich schwache Rodrigues-Vorlage nicht energisch genug unterbunden hatte (51.), die anschließende Ecke landete über Umwegen bei Carolus. Der ballerte die Kugel aus fünf Metern Richtung Eckfahne (52.).
Damit war es mit Victorias Entlastung so gut wie vorbei. Dassendorf war in der Folgezeit nicht nur optisch überlegen, die Mannschaft von Jan Schönteich wurde auch endlich wieder torgefährlich. Nägele (in der ersten Halbzeit mit Schwächen in der Rückwärtsbewegung) zog jetzt auf links groß auf und überforderte den angeschlagenen Edeling ein ums andere Mal. In der 59. Minute legte er von der Grundlinie ab auf Voigt. Der junge Dassendorfer legte auch was, nämlich sich den Ball viel zu kompliziert fünf Meter vor dem Gehäuse zurecht – und wurde noch geblockt. Drei Minuten später konnte Voigt niemand mehr blocken. Nach einer Ecke kam er aus zwei Metern in guter Position zum Schuss. Der wäre drin gewesen – wenn Voigt den Ball vernünftig getroffen hätte. Zur Verstärkung der nun aussichtsreich wirkenden Bemühungen um den Ausgleich brachte Dassendorfs Trainer Jan Schönteich Eric Agyemang als Mittelstürmer in die Partie (Voigt rutschte auf halbrechts, Dettmann auf die Sechs, Amando Aust in die Innenverteidigung). Agyemang bewegte nichts, Nägele weiterhin umso mehr. Sein Fernschuss zischte knapp vorbei (72.).
Nun reagierte Victorias Trainer Lutz Göttling. Der angeschlagene Edeling musste raus, Choi rückte auf die Rechtsverteidigerposition, Nikroo ins rechte Mittelfeld und der ins Spiel gebrachte Danial Jadidi sollte über links wirbeln (72.). Nur neun Minuten hielt diese Maßnahme, da foulte Nikroo und kommentierte sofort darauf die Gelbe Karte. Konsequenz: Gelb-Rot für den jungen Deutsch-Iraner. Also wurde Göttling erneut zu einer Umstellung gezwungen. Sergej Schulz ging ins rechte Mittelfeld, Stürmer Zischimmer musste raus, ein 4-4-1 sollte das Spiel über die Zeit bringen. Es klappte, da Nägele nicht mehr entscheidend durchkam und Dassendorf seine Standards nahezu fahrlässig verschenkte.
Fast hätte noch mehr geklappt. Nämlich das 3:1. Es hätte die Tabellenführung bedeutet. Thiessen (wer auch sonst!) spielte bei einem Konter den Ball genau mit dem richtigen Timing und Tempo auf Boock, der chippte ihn am vorrausstürzenden Gruhne vorbei, doch Warmbier gab vor der Torlinie den Retter in letzter Not. Und Rodrigues? War absolut kein Oliver Bierhoff. Bemühte sich sichtbar, ohne im Entferntesten an seinen genialen Moment beim 2:1 anschließen zu können. Einmal, bei einem Dribbling (78.), bei dem seine Hereingabe alle Mitspieler verfehlte, fiel er noch auf.
Diese Szene wird bald vergessen sein. Genau wie alles, was ihm sonst nicht gelang. Bleiben wird dieser schöne Moment. Diese 44. Minute, dieser perfekte Frechdachs-Treffer mit Chuzpe und ein bisschen Glück. Vielleicht ist es ja dieses Tor, das dem SC Victoria am Saisonende die entscheidenden zwei Punkte mehr für den Titel beschert. Die Feier eines solchen Triumphs dürfte Marcel Rodrigues niemals vergessen.
Stimmen:
Jan Schönteich (Trainer TuS Dassendorf): Glückwunsch an Victoria. Der Spielverlauf hat das Ergebnis nur bedingt hergegeben. Wir hatten mehr Ballbesitz und mehr Torchancen. Wir wollten das erwartet enge Spiel im Zweifel angesichts der Ausfälle von Victoria und unserer allgemeinen Stärke bei Standards über eben diese Standards entscheiden. Dass wir es jetzt in der Gegenrichtung durch Standards entschieden haben, war nicht geplant. Wir werden darüber sprechen müssen, wie wir unsere Tore hier kassiert haben. Beim 0:1 haben wir die Ecke unglaublich schlecht verteidigt. Beim 1:2 war das Slapstick meiner Mannschaft. Wir kommen in die Pressing-Situation, lassen Victoria da raus, ein Pässchen und Rodrigues finalisiert mit der Hacke – (ironisch) das ist ja einer Spitzenmannschaft total würdig, was wir da gezeigt haben… Dann darf man sich eben nicht beschweren, wenn man verliert, kann sich über eine engagierte Leistung nicht freuen und fährt verdientermaßen geschlagen nach Hause. Dass wir jetzt acht Punkte weg sind von der Spitze, wenn das Wochenende normal läuft, war nicht Teil des Plans. Ich habe übrigens keine Angst vor dem Wort „Krise“. Wir haben drei der letzten vier Spiele nicht gewonnen. Für unsere Ansprüche ist das eine Krise. Allerdings haben wir bei unserer Krise im letzten Jahr schlechter Fußball gespielt. Wir haben also keine spielerische Krise, keine Schaffenskrise, sondern eine Effektivitätskrise.
Lutz Göttling (Trainer SC Victoria): Ich sehe das mit den Torchancen etwas anders als Jan, möchte aber erst einmal sagen, dass wir einen sehr engagierten Auftritt unserer sehr jungen Mannschaft gesehen haben, bei der sieben Spieler unter 23 Jahre alt sind. Dassendorf hat gedrückt, aber außer dem Tor hatten sie in der ersten Halbzeit nur eine Torchance, die Grubba hervorragend hält. Wir hatten aus dem Konter heraus zwei, drei hervorragende Torchancen. In der ersten Halbzeit haben wir den Spielaufbau des Gegners in gewissen Zonen zugelassen, haben die Räume gut zugemacht und schnell umgeschaltet. Zweite Halbzeit war uns klar, dass der Gegner seine körperliche Überlegenheit ausspielen will. Hier muss ich Jan Recht geben: Ich habe selten ein Spiel gesehen, wo der Gegner so viele Standardsituationen liegen lässt. Zweimal hatten wir Glück, als Nägele sich durchgesetzt hat und Dassendorf Torchancen hatte. Boock hätte für uns später das 3:1 machen müssen. Gratulation an meine Mannschaft: Wir haben den aktuellen Meister geschlagen und die Ausfälle von Ebbers und Eybächer gut verkraftet. Zum Tor von Marcel Rodrigues: Er ist ein verrückter Hund. Letzte Woche hat er den Ball bei Cordi fast von der Außenlinie ins Netz geschlenzt, obwohl eigentlich drei Spieler in der Mitte besser stehen. Er kann einen Trainer zur Weißglut treiben. Aber er hat eben auch so ein Stück Genialität, die es sonst kaum gibt im Hamburger Amateurfußball. Und es ist schön, so ein Tor zu sehen. Und auch schön zu sehen, dass man uns nicht auf Marius Ebbers reduzieren kann, der auch nächste Woche bei Condor vermutlich fehlen wird, weil er bei der Kleinfeld-Europameisterschaft ist.
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